PaaS 11 - 
Graustufen

Dr. Albers verfolgt verstörende Videos selbsternannter "Jäger", die Pädophile in Fallen locken und ihre Gewalt als lukratives Spektakel inszenieren. Zwischen nüchternen Forschungsdaten und der Echokammer des Hammerschlags ringt er mit der Analyse eines Phänomens, das 170 dokumentierte Angriffe zählt und Millionen Zuschauer begeistert.

Graustufen

Der Bildschirm flimmerte. Wieder das Video. Realjuujika. Der Hammer hob sich, senkte sich. Der Lockvogel war ein gefälschtes Online-Profil gewesen. Ein angeblich 15-Jähriger. Dann der Einbruch, die Kamera lief mit. Dr. Albers spürte ein Ziehen hinter den Schläfen. Draußen nieselte es. Ein grauer Märzdonnerstag in London.

Die Zahlen lagen auf dem Schreibtisch, ordentlich ausgedruckt. 170 gewalttätige Angriffe seit 2023. Eine Eskalation, festgehalten in Pixeln und Polizeiberichten. Die New York Times hatte es gut zusammengefasst. Fast zu gut. Die Klarheit der Analyse stand im Kontrast zum Schmutz der Bilder – Männer, die in Fallen gelockt wurden, oft unter dem Vorwand eines Treffens mit Minderjährigen, dann vor laufender Kamera konfrontiert, gedemütigt, geschlagen.

Er holte sich einen Kaffee aus der Gemeinschaftsküche. Die Maschine surrte laut in der sonst stillen Etage des Instituts. Kollegin Brandt grüßte kurz, vertieft in ihre eigenen Datensätze über Desinformationskampagnen. Jeder hatte sein Spezialgebiet des digitalen Abgrunds. Albers' Gebiet war die Selbstjustiz, die sich als Content tarnt.

Albers trank den Kaffee am Fenster. Die Tropfen liefen am Glas herunter. Sie nannten sich Jäger. Lockten Männer, die sie für Pädophile hielten, über gefälschte Profile in die Falle. Konfrontierten sie vor laufender Kamera. Inspiriert von einer Fernsehshow, die längst abgesetzt war. Jetzt verkauften sie T-Shirts mit Logos, boten zahlenden Abonnenten ungeschnittene Gewalt. Die Gewalt war das Produkt, die Klicks die Währung. "Gewaltunternehmer", hatte der französische Forscher Gayer sie genannt. Das traf es. Präzise. Nüchtern. Zu nüchtern leider, dachte Albers.

Er dachte an das Interview mit dem  australischen Sprecher von Kick. "Neutrale Haltung". Albers schnaubte leise. Neutralität gegenüber Faustschlägen, Tritten, Erniedrigungen live gestreamt. Die Plattformen boten die Bühne, die Algorithmen verstärkten die Reichweite. Ein Ökosystem, das sich selbst nährte und von dem er, der Analytiker, irgendwie auch ein Teil war. Ein unangenehmer Gedanke.

Mittagspause. Ein trockenes Brötchen vom Bäcker unten. Gegessen am Schreibtisch, neben den ausgedruckten Chatprotokollen und Standbildern. Einer der "Jäger", Zdorovetskiy, kam im Helikopter. Als Joker verkleidet. Ein anderer ließ einen Alligator aufmarschieren. Theatralik für die Klicks. Das Geräusch des Hammers auf Knochen, auch wenn nur im Video gehört, hallte nach. "Fast schon Slapstick, wenn es nicht so brutal wäre", murmelte Albers. Der Versuch eines trockenen Humors fühlte sich schal an.

Der Staatsanwalt aus Pennsylvania wurde zitiert: "Man kann nicht einfach Batman sein." Ein vernünftiger Satz. Aber die Videos hatten Millionen Aufrufe. Die Kommentare darunter: Jubel, Anfeuerung, Forderungen nach mehr. Die Grenze zwischen Selbstjustiz und Unterhaltung verschwamm im 4K Ultra Licht der Bildschirme.

Albers öffnete eine neue Datei. Seine Aufgabe war die Analyse. Muster erkennen, Strukturen aufzeigen, die Dynamik beschreiben. Er war Experte für Online-Extremismus und Vigilantismus. Er kannte die Theorien, die Studien, die Fachbegriffe. Aber die Bilder des blutigen, gefesselten Mannes in Pennsylvania brannten sich ein. 'Gewaltunternehmer', ja. Aber das Wort kratzte nur an der Oberfläche des Ekels. Die rohe Gewalt passte in keine saubere akademische Kategorie.

Er schrieb den ersten Satz. Löschte ihn wieder. Wie fasst man das, ohne es zu banalisieren oder – schlimmer – zu ästhetisieren? Die Komplexität war erdrückend. Die Täter waren auch Opfer ihrer eigenen Radikalisierung. Die Opfer der "Jäger" waren mutmaßliche Täter, aber das rechtfertigte keine Folter vor laufender Kamera. Und die Justiz? Oft überfordert.

Keine einfachen Antworten. Keine klaren Helden oder Schurken. Nur Graustufen. Und die ständige Frage nach der eigenen Rolle. Analysieren, dokumentieren – reichte das? Oder machte man sich zum Teil des Spektakels, indem man es beschrieb? Die Distanz des Wissenschaftlers fühlte sich manchmal wie eine Lüge an.

Der Cursor blinkte auf dem leeren Bildschirm. Draußen wurde der Nieselregen stärker. Albers schloss kurz die Augen. Morgen würde er weitermachen. Die Zahlen aktualisieren, die neuen Videos sichten. Die Muster suchen im Morast. Der Job eben. Er nahm noch einen Schluck kalten Kaffee. Die Tasse zitterte kaum merklich in seiner Hand.

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